Ein Spin-Off der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
27. Jahrgang (2024) - Ausgabe 3 (März) - ISSN 1619-2389
 

Die Psychologie unternehmerischer Entscheidungen

von Dr. Werner Gleißner

Überblick

Die neoklassisch geprägte mikroökonomische Theorie betrachtet das Unternehmen immer noch als "monolithischen Block". Einzelne Mitarbeiter spielen keine wirkliche Rolle. Bis auf die "Helden" an der Spitze. Ihre offenbare Genialität ergänzt das ansonsten streng rationale Kalkül perfekt mit einer Prise "human touch". Komisch, dass es immer wieder zu dramatischen Havarien kommt. Die meisten Menschen machen eben beim Handeln in komplexen Situationen – unabhängig von Kompetenz und Intelligenz – schwere, systematische Fehler.

Unternehmer in komplexen Entscheidungssituationen

Es ist offensichtlich, dass Unternehmer handeln. Ihr Ziel ist in der Regel der Erfolg des Unternehmens. Betrachtet man die typischen unternehmerischen Entscheidungen, zum Beispiel Investitionsentscheidung, Personaleinstellung oder Preissetzung, so fällt sofort auf, dass es sehr oft durchaus strittig ist, welche Handlungsalternative die richtige ist. Selten lässt sich beweisen, dass beispielsweise ein bestimmter Preis "richtig" ist. Meist fehlen für die Entscheidung wichtige Informationen – beispielsweise über die "Preis-Absatz-Funktion".

Außerdem treten häufig unüberschaubar viele Fern- und Nebenwirkungen auf. Neben den unmittelbaren Konsequenzen eines neuen Preises für die Absatzmenge sollte vielleicht auch die langfristige Imagewirkung einer solchen Maßnahme bei den Kunden berücksichtigt werden oder die wahrscheinlichen Gegenmaßnahmen der Wettbewerber.

Offensichtlich sind unternehmerische Entscheidungen ziemlich schwierig und auch gefährlich, was regelmäßig durch die Insolvenzstatistiken unterstrichen wird. Solche "schwierigen" Entscheidungssituationen, in denen sich außer Unternehmern regelmäßig beispielsweise auch Politiker und viele andere Menschen befinden, bezeichnet man allgemein als "komplexe Situationen". Sie lassen sich durch die folgenden typischen Merkmale charakterisieren: Komplexität und Vernetztheit der relevanten Variablen, Intransparenz bezüglich der (stochastischen) Wirkungszusammenhänge sowie Eigendynamik der Umwelt und Irreversibilität (Pfadabhängigkeit) der Handlungen.

Empirische Untersuchungen zeigen, dass die meisten Personen beim Handeln in komplexen Situationen – unabhängig von der fachlichen Kompetenz und der Intelligenz – viele schwerwiegende, systematische Fehler machen.

Langsamkeit des Denkens

Die Langsamkeit des Denkens erzwingt Vereinfachungen beim Umgang mit komplexen Entscheidungsproblemen, damit in akzeptabler Zeit überhaupt eine Entscheidung getroffen wird ("mental economy"). Eine häufig festzustellende Vereinfachung ist der sogenannte "Methodismus" - das heißt, die Anwendung bestimmter fester Handlungsregeln, also Heuristiken. Gerade wenn eine bestimmte Handlungsweise in der Vergangenheit sehr erfolgreich war, tendieren die Menschen dazu, diese – ungeachtet der konkreten Situation – immer wieder anzuwenden.

Drucker ist in seiner Schrift "Innovation and Entrepreneurship" (London, 1985) gar der Meinung, dass der Misserfolg vieler Unternehmen maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass ihre "Geschäftslogik" – also etwa die Menge ihrer handlungsbestimmenden Heuristiken – nicht mehr mit den Umfeldgegebenheiten zusammen passt und dennoch nicht verändert wird. Zu einem Fehler wird dieses Vorgehen dann, wenn sich der Handelnde über die Anwendungsvoraussetzungen einer bestimmten Regel keine Gedanken mehr macht.

Notwendigkeit der Bewahrung der Handlungsfähigkeit

Da ein Mensch ohne jede Erfolgserwartung überhaupt nicht mehr handeln würde, vertritt Dörner in seiner Schrift "Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen" (Berlin, 1989) die Auffassung, dass die Bewahrung des Gefühls der eigenen Kompetenz ein notwendiger Selbstschutz sei, um sich ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit zu erhalten. Es kommt beispielsweise vor, dass sich Menschen in endlosen Informationssammlungs- und Planungsprozessen verstricken, aber auf eine Entscheidung und Handlung verzichten.

Damit wird nämlich vermieden, dass sie in der Realität erkennen müssen, ein Problem nicht beherrschen zu können. Auch Informationen, die den eigenen Hypothesen widersprechen, werden weniger berücksichtigt als hypothesenbestätigende Informationen.

Geringe "Zuflusskapazität" des Gedächtnisses und Vergessen

Die geringe "Zuflusskapazität" des menschlichen Gedächtnisses (Informationsspeicherung pro Zeiteinheit) und die Vergesslichkeit bewirken, dass insbesondere Vergangenheitsdaten, die für die Betrachtung von Zeitabläufen wichtig wären, nicht mehr verfügbar sind, wenn nicht entsprechende Hilfsmittel (zum Beispiel: Diagramme) eingesetzt werden. Informationen über die Gegenwart sind wesentlich detaillierter verfügbar als solche über die Vergangenheit. Dies bewirkt, dass Menschen mit der Analyse und Prognose von Zeitabläufen erhebliche Schwierigkeiten haben. Auch zeitverzögerte Wirkungen des eigenen Handelns bereiten große Schwierigkeiten und führen – wenn nicht erkannt – zu starken, übersteuernden Aktionen.

Fehler beim Umgang mit Wahrscheinlichkeiten

Aufgrund des stochastischen Charakters komplexer Situationen hängt die Qualität von (unternehmerischen) Entscheidungen wesentlich von der richtigen Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten bestimmter Ereignisse ab. Genau hier machen Menschen jedoch oft entscheidende Fehler: Bestimmte Wahrscheinlichkeiten werden dramatisch überschätzt, andere ebenso unterschätzt.

Mit den Ursachen für solche Fehleinschätzungen haben sich insbesondere Tversky und Kahneman in ihrem Aufsatz "Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases" (Science, 1974) befasst. Sie haben festgestellt, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses deutlich überschätzen, wenn

  • dieses einem rasch und leicht verfügbaren Gedächtnisinhalt – zum Beispiel einem erst vor kurzem eingetretenen oder besonders einprägsamen (weil vielleicht schrecklichen) Ereignis – ähnelt (sogenannte "Verfügbarkeits-Heuristik")
  • dieses einem besonders anschaulichen Gedächtnisinhalt – einem "typischen Beispiel" – ähnelt (sogenannte "Repräsentativitäts-Heuristik").

Während die Verfügbarkeits-Heuristik bewirkt, dass die aktuellste Information am stärksten im Bewusstsein bleibt, kann häufig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung des "ersten Eindrucks" festgestellt werden. Da durch die zunächst verfügbare Information bereits ein mentales Bild aufgebaut wird, werden alle späteren Informationen vor diesem Hintergrund interpretiert, was der Erstinformation einen besonderen Stellenwert beimisst.

Selektive, hypothesengeleitete Informationsaufnahme

Menschen nehmen neue Informationen – zum Beispiel die Resultate ihrer Handlungen – nicht neutral auf. Zur Vermeidung von Unsicherheiten und – wieder einmal – zur Vermeidung von "Denkzeit" werden Informationen, geleitet durch bestehende Vermutungen über die relevante Umwelt, sehr selektiv aufgenommen und interpretiert.

Eine einmal gefasste Meinung über die Wirkungszusammenhänge der Umwelt wird – auch wenn sie falsch ist – nur langsam revidiert. Jede neue Information wird – soweit irgend möglich – als Bestätigung der bisherigen Vermutungen interpretiert, um unangenehme psychische Spannungen und Widersprüche zu vermeiden ("kognitive Dissonanz").

"Sunk-Cost-Effekt"

Unter dem "Sunk-Cost-Effekt" ist die (oft irrationale) Neigung von Menschen zu verstehen, an einer Handlungsalternative (zum Beispiel einem Investitionsprojekt) um so eher festzuhalten, je mehr Geld, Zeit oder Arbeit in der Vergangenheit dafür bereits eingesetzt wurden. Der Sunk-Cost-Effekt ist gemäß experimentellen Untersuchungen um so größer,

  • je höher der Anteil der Sunk-Costs an den Gesamtkosten ist; 
  • weiter eine Investition/Handlung schon fortgeschritten ist;
  • seltener Entscheider eine solche Situation kennen gelernt haben;
  • unklarer die Entscheidungssituation und die Handlungsalternativen sind. 

Eine weitergehende Erklärung für den Sunk-Cost-Effekt – und verschiedene weitere "Verhaltensanomalien" – liefert die sogenannte "Prospect-Theorie", eine deskriptive Präferenztheorie von Tversky und Kahneman für Entscheidungen unter Unsicherheit. Diese – 2002 mit dem Nobelpreis gewürdigte – Theorie geht davon aus, dass eine "s-förmige" Wertfunktion zur individuellen, subjektiven Bewertung des (psychologischen) Nutzens eines bestimmten Ereignisses existiert. Diese Wertfunktion bewirkt, dass ein Mensch relativ risikofreudig ist, wenn er seine momentane Situation (wie beim "Sunk-Cost-Effekt") als "Verlustsituation" auffasst. Umgekehrt ist er relativ risikoscheu, wenn er sich bereits in einer "Gewinnsituation" wähnt, die er sichern möchte.

Erfahrung im Umgang mit komplexen Situationen

Warum lassen sich die genannten häufig auftretenden Entscheidungsfehler – wenn sie als solche erkannt worden sind – nun nicht relativ leicht vermeiden oder zumindest begrenzen? Das Problem ist, dass jede der genannten Handlungsweisen nur unter bestimmten Bedingungen einen Fehler darstellt. Außerdem neigen unterschiedliche "Typen" von Entscheidern – wenn man eine derartige Vereinfachung akzeptiert – zu unterschiedlichen Fehlern. So lassen sich – stark vereinfacht – eher risikoscheue, lernbereite "rationale Entscheider" von selbstbewussten, risikofreudigen "Machern", die auf bewährte Heuristiken vertrauen, unterscheiden.

Deutlich andere Entscheidungsfehler findet man bei harmoniebetonten, meist auch risikoscheuen Unternehmern, die primär negative Gefühle vermeiden wollen und deshalb Fehlentscheidungen nicht eingestehen. Dabei geht auch Dörner davon aus, dass bestimmte Personengruppen besser mit komplexen Problemen umgehen können als andere. Die Ursache dafür ist nach seiner Einschätzung nicht so sehr Intelligenz oder Motivation, sondern die Erfahrung im Umgang mit komplexen Situationen.

Derart erfahrene Personen – Dörner nennt sie "Entscheidungspraktiker" – sind eher als andere in der Lage zu erkennen, welche der oben aufgezählten Handlungsweisen (Fehler) in bestimmten Situationen unbedingt vermieden werden müssen und welche akzeptabel sind. Sie vermeiden Handlungsweisen, die besonders häufig Handlungsfehler sind, wie zum Beispiel unzureichende Zielanalyse, fehlende Modellbildung und "unreflektierter Methodismus".

Der Erfolg von Unternehmen hängt also auch wesentlich von den individuellen Charakteristika der die Strategie beeinflussenden Führungspersonen ab, speziell deren Fähigkeiten, typische "Denkfallen" zu erkennen und die eigenen Verhaltensweisen kritisch zu hinterfragen. Wer typische Fehler kennt, hat eine bessere Chance, sie bei sich selbst zu vermeiden.

Managementfehler bei komplexen Entscheidungen – Beispiele

Fünf – sicher vereinfachende – Beispiele zeigen, wie maßgeblich psychologisch bedingte Entscheidungen sehr schwerwiegende betriebswirtschaftliche Folgen haben können. Hier werden typische, im wesentlichen psychologisch bedingte Verhaltensweisen beschrieben, die durchaus keine seltenen Einzelfälle sind, aber aus Sicht einer rationalen Betriebsführung Managementfehler darstellen.

Beispiel 1: Hofer Kunststoffteile GmbH

Die Hofer Kunststoffteile GmbH wächst seit mehr als zehn Jahren stetig und erwirtschaftet regelmäßig Umsatzrenditen zwischen vier und fünf Prozent. Durch den Verlust von zwei Großkunden kommt es 1998 erstmals zu einem deutlichen Umsatzrückgang und Verlusten von 900.000 Euro. Die Geschäftsführung erarbeitete daraufhin zusammen mit Unternehmensberatern das Effizienzsteigerungsprogramm "Phoenix", das unter anderem eine Lagerbestandsoptimierung, die Reorganisation des Vertriebs, das Outsourcing des unrentablen eigenen Fuhrparks sowie Verbesserungen der Finanzierungskonditionen umfasste. Durch die damit erzielten Kostenreduzierungen konnte der Ertragsrückgang fast vollständig ausgeglichen werden.

Warum, so ließe sich fragen, wurden die offensichtlich schon seit Jahren vorhandenen Kosteneinsparungspotenziale nicht viel früher genutzt? Weil die Geschäftsführung offenbar ein typisches "Satisfying Behavior" zeigt. Solange die Ertragskraft als befriedigend angesehen wird, werden bestehende Optimierungspotenziale nicht ausgeschöpft. Erst wenn die momentane Situation "schmerzt", also die individuellen Toleranzgrenzen der Geschäftsführung überschritten sind, wird über mögliche neue Handlungsweisen zur Verbesserung der Ertragssituation nachgedacht.

Beispiel 2: Rüsselsheimer Elektronik AG

Aufgrund der prognostizierten hohen Marktwachstumsraten für "Sub-Transit-Konverter" beschloss die Rüsselsheimer Elektronik AG 1998 den Ausbau ihrer diesbezüglichen Fertigungskapazität. Die neue Fabrik – Bauzeit zwei Jahre – soll zwölf Millionen Euro kosten. Schon Anfang 1999 – über drei Millionen Euro sind inzwischen investiert – ändert sich die Lage: Durch eine technische Innovation gibt es nun ein wesentlich günstigeres Substitutionsprodukt zu den Sub-Transit-Konvertern, was deren Marktchancen natürlich stark beeinträchtigt. Der Vorstand beschließt dennoch, den Bau der Fabrik wie geplant fortzusetzen.

Warum wird das inzwischen kaum mehr aussichtsreiche Investitionsprojekt nicht abgebrochen oder zumindest stark modifiziert? Die unveränderte Fortsetzung des Baus der neuen Fabrik trotz deutlich verschlechterter Umfeldbedingungen lässt sich durch den "Sunk-Cost-Effekt" begründen. Um vor sich selbst und anderen keine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen, wird – in der zweifelhaften Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation – konsequent an der einmal eingeschlagenen Handlungsweise festgehalten.

Beispiel 3: Junk & Crisis GmbH

Die Junk & Crisis GmbH, ein Anlagenbau-Unternehmen, hat schon seit Jahren eine unbefriedigende Rentabilität, aber erwirtschaftet noch geringe Gewinne. Kundenbefragungen zeigen zunehmende Kritik an der Qualität der Leistungen. Einzige Maßnahme der Geschäftsführung war es, die Kundenbefragungen einzustellen, weil die Kunden offenbar die tatsächliche Qualität mangels Kompetenz nicht realistisch einschätzen können, was die Ergebnisse offensichtlich wertlos mache. Sinkende Erfolgsquoten bei Ausschreibungen und eine rückläufige Arbeitsproduktivität wurden als rein konjunkturelles Problem bewertet.

Nach mehreren Jahren geringer Rentabilität traten 1997 erstmals hohe Verluste und Liquiditätsprobleme auf. Die Wünsche der Hausbank nach einem Konsolidierungskonzept konterte der Geschäftsführer mit der Feststellung: "Wir haben keine Zeit für Papierkram, wir müssen jetzt handeln!". Darauf folgten zwei Dutzend Ad-hoc-Maßnahmen, von denen nahezu die Hälfte binnen drei Monaten wieder rückgängig gemacht wurde.

Beispielsweise wurde die Kalkulationsabteilung angewiesen, an 50 Prozent mehr Ausschreibungen teilzunehmen, um endlich mehr Umsatz zu akquirieren. Dafür sollte auf eine detaillierte Kalkulation jedes einzelnen Postens der Leistungsverzeichnisse verzichtet werden. Man habe ja schließlich ausreichend Kalkulationserfahrungen, um auch so die richtige Preislage einschätzen zu können. Die Folge war der Submissionserfolg bei zwei Projekten, deren Erlöse kaum mehr als die Hälfte der Kosten deckten. Doch die Geschäftsführung sieht dies als durchaus akzeptabel an, weil auf diese Weise ja ihr wichtigstes Ziel – das Verhindern des Markteintritts neuer Wettbewerber in der Region – erreicht wurde.

Doch warum wurden jahrelang alle Krisensymptome missachtet? Warum versinkt die Geschäftsführung gerade in der Krise, wenn gezieltes Handeln dringend erforderlich wäre, in chaotischer Hektik und nimmt immer höhere Risiken in Kauf? Offensichtlich summiert sich hier eine Vielzahl von Fehlentscheidungen. Das Ignorieren negativer Kundenbefragungsergebnisse ist ein Beispiel für ein "ballistisches Entscheidungsverhalten" mit der Intention, ein möglichst positives Selbstbild zu erhalten. Negative Informationen werden so lange wie möglich ignoriert.

Erst ein offensichtliches Scheitern der bisherigen Unternehmenspolitik – ein "strategischer Misserfolg" – führt zu einer (planlosen) Neuentwicklung von unternehmerischen Handlungsweisen. Der Verzicht auf eine detaillierte Angebotskalkulation ist ein Indiz für die in der bestehenden "Verlustsituation" erhöhte Risikobereitschaft ("Prospect-Theorie"). Vermutlich besteht zudem weiterhin ein (zu)hohes Selbstbewusstsein, das zu riskanten, intuitiven Entscheidungen bei den Angeboten führt. Schließlich wurden in Anbetracht der hohen Verluste durch die akquirierten Aufträge zur nachträglichen Rechtfertigung des eigenen Handelns die ursprünglichen Zielsetzungen umdefiniert. Statt Ertragssteigerung wird plötzlich das Verhindern des Markteintritts neuer Wettbewerber in der Region als wichtigstes Ziel angesehen.

Beispiel 4: Stetten & Halden Bank eG

Herr Droger, Vorstand der Stetten & Halden Bank eG und erfahrener Kenner der Natursteinindustrie, muss wieder einmal – wie schon oft – über ein Darlehen für einen Steinbruchbetreiber entscheiden. Die Steinmeier GmbH hat wegen einiger Investitionen einen vorübergehenden Liquiditätsengpass. Eine Routine-Entscheidung: Herr Droger weiß, dass Steinbrüche sehr profitabel sind, weil die Transportkosten von Steinen so hoch sind, dass zwangsläufig weitgehend wettbewerbsfreie Räume entstehen.

Er prüft natürlich die Eigenkapitalquote, die mit 34 Prozent sehr ordentlich ist. Als Sicherheit stehen der Bank schon seit Jahren die Grundstücke der Steinbrüche zur Verfügung. Eine – scheinbar – sichere Angelegenheit, die schnell befürwortet werden kann. Leider stellte sich zwei Jahre später heraus, dass wegen immer größerer Abraummengen pro Tonne Gesteins die Förderkosten massiv angestiegen sind, und eine vorgesehene Erweiterung des Steinbruchs von den zuständigen Behörden nicht mehr genehmigt wird. Die Rückzahlung der Darlehen ist inzwischen stark gefährdet.

Warum bloß haben Herr Droger und seine Mitarbeiter vergessen, die langfristigen Fördermöglichkeiten des Steinbruchs bei der Darlehensvergabe zu prüfen? Weil Herr Droger von der Stetten & Halden Bank ein erfahrener Entscheidungspraktiker mit hohem Selbstbewusstsein ist, der die anstehende Darlehensentscheidung für die Steinmeier GmbH als Routinefall betrachtet und sie entsprechend "Standardheuristik" bearbeitet.

Gerade seine umfangreichen Erfahrungen sowie seine Selbstsicherheit aufgrund seiner erfolgreichen früheren Kreditentscheidungen führen zu einem stark vereinfachten, teilweise intuitiven Entscheidungsprozeß. Wichtige Einflussfaktoren auf die Entscheidung – hier Erweiterungsgenehmigungen des Steinbruchs – werden vernachlässigt. Einen solchen Fehler würde vermutlich ein weniger erfahrener Firmenkundenbetreuer, der aufgrund seiner noch höheren Unsicherheit systematischer vorgehen und mehr Informationen prüfen würde, nicht machen. Wie man sieht, ist Erfahrung und Selbstsicherheit von Entscheidern durchaus nicht immer günstig.

Beispiel 5: McCash GmbH

Die McCash GmbH ist ein mittelständisches Hochbau-Unternehmen aus Kassel, das 1993 durch den Bau-Boom bei einem Umsatz von 15 Millionen Euro immerhin knappe zwei Millionen Euro Vor-Steuer-Gewinn erwirtschaftete. Da in der Vergangenheit meist nur geringe Gewinne erwirtschaftet wurden, will Geschäftsführer Müller die Substanz des Unternehmens nun stärken und Steuerzahlungen unbedingt vermeiden. Deshalb investiert er – auf Anraten des Steuerberaters – vier Millionen Euro in den Ausbau des Bauhofes, die Anschaffung neuer Maschinen sowie die Renovierung des Verwaltungsgebäudes. Durch Sonderabschreibungen kann er tatsächlich die Steuern fast vollständig umgehen.

Vier Jahre später erlebt Herr Müller – inzwischen im Tief der Bau-Krise angekommen – eine dramatische Liquiditätskrise. Das Unternehmen ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, weil sich natürlich in dieser Situation auch für die gekauften Maschinen keine Käufer finden. Da fragt man sich doch, warum die langfristigen Konsequenzen der Investition – insbesondere die Liquiditätswirkung – bei der Entscheidung kaum beachtet wurden?

Die Probleme der McCash GmbH gehören zu den Situationen, die man als Unternehmensberater bei Konsolidierungs- und Sanierungsfällen leider sehr oft sieht. Um das Ziel "Steuern sparen" zu erreichen, werden betriebswirtschaftlich wenig sinnvolle Investitionen getätigt. Offensichtlich wurden die neben- und langfristigen Folgewirkungen der Investitionsentscheidung ebenso wie die Risiken (weitgehend) ignoriert. Das Entscheidungsproblem wurde unangemessen vereinfacht. Insbesondere wurde nicht beachtet, dass "Steuern sparen" niemals letztendliches Ziel sein kann, sondern immer einem Ziel wie "Steigerung des Unternehmenswertes" untergeordnet sein muss.

Ansatzpunkte für die Verbesserung der Entscheidungsqualität

Wie kann man darüber hinaus erreichen, dass bei begrenzter Entscheidungszeit alle relevanten Aspekte bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen betrachtet werden? Ein absolut sicheres Verfahren für die Optimierung unternehmerischer Entscheidungen gibt es dafür natürlich nicht – sonst wäre Unternehmertum auch zu einfach. Aber durch die richtigen Anregungen – und kritischen Fragen – lässt sich offensichtlich die Entscheidungsqualität verbessern. Insbesondere wenn es gelingt, auf möglichst viele, typischerweise wesentliche Ursachen für Fehlentscheidungen hinzuweisen.

Grundsätzlich sinnvoll ist eine Systematisierung der Prozesse bei wichtigen Entscheidungen und die konsequente Beachtung von – oft eigentlich selbstverständlichen – "Praxisregeln der Entscheidungsfindung":

  • Ziel klar und operational definieren;
  • Entscheidungsrelevante Informationen und wesentliche Annahmen explizit festhalten;
  • Die eigenen Urteile durch anerkannte wissenschaftliche Theorien und empirische (statistisch belegte) Untersuchungen (Daten) rechtfertigen;
  • Gegenargumente betrachten;
  • Kritische Selbstprüfung, ob man die Richtigkeit einer Entscheidung Dritten gegenüber "beweisen" kann;
  • Die Reaktionen von "Mit- und Gegenspielern" explizit durchdenken.

Zudem kann mit checklistenartigen Systemen wichtiger "Faustregeln für Unternehmer" sichergestellt werden, dass zentrale betriebswirtschaftliche Grundprinzipien in der unternehmerischen Praxis – trotz Zeitmangels und hoher Belastung der Unternehmensführung mit operativen Aufgaben – eine angemessene Beachtung finden können. Insbesondere können mit diesem Hilfsmittel Vorstände und Geschäftsführer unterstützt werden, auf einfache und effiziente Weise umfangreiches betriebswirtschaftliches Know-how nutzen zu können, ohne sich vorher zu intensiv mit aufwändigen betriebswirtschaftlichen Modellen und Theorien befassen zu müssen. So werden zumindest die relevanten Denkanstöße für eine kritische Betrachtung eigener Entscheidungen – auch unter bisher vernachlässigten Gesichtspunkten – geliefert.

Ein gezieltes Entscheidungstraining ist zudem ein Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Qualität unternehmerischer Entscheidungen, das die übliche betriebswirtschaftlich-fachliche Weiterbildung abrunden sollte. Bei wichtigen Entscheidungen lassen sich dann viele potenzielle Fehler durch eine Systematisierung und methodische Untermauerung von Entscheidungsabläufen vermeiden.

Eine Verbesserung der Voraussetzungen für unternehmerische Entscheidungen auf Basis der psychologischen Erkenntnisse ist eine wichtige, bisher wenig beachtete Investition in den unternehmerischen Erfolgsfaktor "Human Capital". Neben der Ressourcenausstattung des Unternehmens und den weitgehend exogenen Marktstrukturen ist nämlich diese "Entscheidungskompetenz des Unternehmers" als weiterer zentraler Erfolgsfaktor anzusehen.

Quelle

Dieser Fachbeitrag wurde - mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH - der folgenden Publikation entnommen:

 

Vorstand der Sektion Arbeits-‚ Betriebs-
und Organisationspsychologie im
Berufsverband Deutscher Psychologen
und Psychologinnen e.V. (Hrsg.),
Wirtschaftspsychologie aktuell,
Heft 2, Jahrgang 2003, Seite 69 bis 74

Autor

Dr. Werner Gleißner
FutureValue Group AG
Obere Gärten 18
D-70771 Leinfelden-Echterdingen
Telefon: +49 (0)711 79 73 58 - 30
Telefax: +49 (0)711 79 73 58 - 58
Internet: www.futurevalue.de
E-Mail: w.gleissner@futurevalue.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
7. Jahrgang (2004), Ausgabe 5 (Mai)


Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher
schriftlicher Genehmigung des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, Kiel.
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Die Psychologie unternehmerischer Entscheidungen

von Dr. Werner Gleißner

Überblick

Die neoklassisch geprägte mikroökonomische Theorie betrachtet das Unternehmen immer noch als "monolithischen Block". Einzelne Mitarbeiter spielen keine wirkliche Rolle. Bis auf die "Helden" an der Spitze. Ihre offenbare Genialität ergänzt das ansonsten streng rationale Kalkül perfekt mit einer Prise "human touch". Komisch, dass es immer wieder zu dramatischen Havarien kommt. Die meisten Menschen machen eben beim Handeln in komplexen Situationen – unabhängig von Kompetenz und Intelligenz – schwere, systematische Fehler.

Unternehmer in komplexen Entscheidungssituationen

Es ist offensichtlich, dass Unternehmer handeln. Ihr Ziel ist in der Regel der Erfolg des Unternehmens. Betrachtet man die typischen unternehmerischen Entscheidungen, zum Beispiel Investitionsentscheidung, Personaleinstellung oder Preissetzung, so fällt sofort auf, dass es sehr oft durchaus strittig ist, welche Handlungsalternative die richtige ist. Selten lässt sich beweisen, dass beispielsweise ein bestimmter Preis "richtig" ist. Meist fehlen für die Entscheidung wichtige Informationen – beispielsweise über die "Preis-Absatz-Funktion".

Außerdem treten häufig unüberschaubar viele Fern- und Nebenwirkungen auf. Neben den unmittelbaren Konsequenzen eines neuen Preises für die Absatzmenge sollte vielleicht auch die langfristige Imagewirkung einer solchen Maßnahme bei den Kunden berücksichtigt werden oder die wahrscheinlichen Gegenmaßnahmen der Wettbewerber.

Offensichtlich sind unternehmerische Entscheidungen ziemlich schwierig und auch gefährlich, was regelmäßig durch die Insolvenzstatistiken unterstrichen wird. Solche "schwierigen" Entscheidungssituationen, in denen sich außer Unternehmern regelmäßig beispielsweise auch Politiker und viele andere Menschen befinden, bezeichnet man allgemein als "komplexe Situationen". Sie lassen sich durch die folgenden typischen Merkmale charakterisieren: Komplexität und Vernetztheit der relevanten Variablen, Intransparenz bezüglich der (stochastischen) Wirkungszusammenhänge sowie Eigendynamik der Umwelt und Irreversibilität (Pfadabhängigkeit) der Handlungen.

Empirische Untersuchungen zeigen, dass die meisten Personen beim Handeln in komplexen Situationen – unabhängig von der fachlichen Kompetenz und der Intelligenz – viele schwerwiegende, systematische Fehler machen.

Langsamkeit des Denkens

Die Langsamkeit des Denkens erzwingt Vereinfachungen beim Umgang mit komplexen Entscheidungsproblemen, damit in akzeptabler Zeit überhaupt eine Entscheidung getroffen wird ("mental economy"). Eine häufig festzustellende Vereinfachung ist der sogenannte "Methodismus" - das heißt, die Anwendung bestimmter fester Handlungsregeln, also Heuristiken. Gerade wenn eine bestimmte Handlungsweise in der Vergangenheit sehr erfolgreich war, tendieren die Menschen dazu, diese – ungeachtet der konkreten Situation – immer wieder anzuwenden.

Drucker ist in seiner Schrift "Innovation and Entrepreneurship" (London, 1985) gar der Meinung, dass der Misserfolg vieler Unternehmen maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass ihre "Geschäftslogik" – also etwa die Menge ihrer handlungsbestimmenden Heuristiken – nicht mehr mit den Umfeldgegebenheiten zusammen passt und dennoch nicht verändert wird. Zu einem Fehler wird dieses Vorgehen dann, wenn sich der Handelnde über die Anwendungsvoraussetzungen einer bestimmten Regel keine Gedanken mehr macht.

Notwendigkeit der Bewahrung der Handlungsfähigkeit

Da ein Mensch ohne jede Erfolgserwartung überhaupt nicht mehr handeln würde, vertritt Dörner in seiner Schrift "Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen" (Berlin, 1989) die Auffassung, dass die Bewahrung des Gefühls der eigenen Kompetenz ein notwendiger Selbstschutz sei, um sich ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit zu erhalten. Es kommt beispielsweise vor, dass sich Menschen in endlosen Informationssammlungs- und Planungsprozessen verstricken, aber auf eine Entscheidung und Handlung verzichten.

Damit wird nämlich vermieden, dass sie in der Realität erkennen müssen, ein Problem nicht beherrschen zu können. Auch Informationen, die den eigenen Hypothesen widersprechen, werden weniger berücksichtigt als hypothesenbestätigende Informationen.

Geringe "Zuflusskapazität" des Gedächtnisses und Vergessen

Die geringe "Zuflusskapazität" des menschlichen Gedächtnisses (Informationsspeicherung pro Zeiteinheit) und die Vergesslichkeit bewirken, dass insbesondere Vergangenheitsdaten, die für die Betrachtung von Zeitabläufen wichtig wären, nicht mehr verfügbar sind, wenn nicht entsprechende Hilfsmittel (zum Beispiel: Diagramme) eingesetzt werden. Informationen über die Gegenwart sind wesentlich detaillierter verfügbar als solche über die Vergangenheit. Dies bewirkt, dass Menschen mit der Analyse und Prognose von Zeitabläufen erhebliche Schwierigkeiten haben. Auch zeitverzögerte Wirkungen des eigenen Handelns bereiten große Schwierigkeiten und führen – wenn nicht erkannt – zu starken, übersteuernden Aktionen.

Fehler beim Umgang mit Wahrscheinlichkeiten

Aufgrund des stochastischen Charakters komplexer Situationen hängt die Qualität von (unternehmerischen) Entscheidungen wesentlich von der richtigen Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten bestimmter Ereignisse ab. Genau hier machen Menschen jedoch oft entscheidende Fehler: Bestimmte Wahrscheinlichkeiten werden dramatisch überschätzt, andere ebenso unterschätzt.

Mit den Ursachen für solche Fehleinschätzungen haben sich insbesondere Tversky und Kahneman in ihrem Aufsatz "Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases" (Science, 1974) befasst. Sie haben festgestellt, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses deutlich überschätzen, wenn

Während die Verfügbarkeits-Heuristik bewirkt, dass die aktuellste Information am stärksten im Bewusstsein bleibt, kann häufig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung des "ersten Eindrucks" festgestellt werden. Da durch die zunächst verfügbare Information bereits ein mentales Bild aufgebaut wird, werden alle späteren Informationen vor diesem Hintergrund interpretiert, was der Erstinformation einen besonderen Stellenwert beimisst.

Selektive, hypothesengeleitete Informationsaufnahme

Menschen nehmen neue Informationen – zum Beispiel die Resultate ihrer Handlungen – nicht neutral auf. Zur Vermeidung von Unsicherheiten und – wieder einmal – zur Vermeidung von "Denkzeit" werden Informationen, geleitet durch bestehende Vermutungen über die relevante Umwelt, sehr selektiv aufgenommen und interpretiert.

Eine einmal gefasste Meinung über die Wirkungszusammenhänge der Umwelt wird – auch wenn sie falsch ist – nur langsam revidiert. Jede neue Information wird – soweit irgend möglich – als Bestätigung der bisherigen Vermutungen interpretiert, um unangenehme psychische Spannungen und Widersprüche zu vermeiden ("kognitive Dissonanz").

"Sunk-Cost-Effekt"

Unter dem "Sunk-Cost-Effekt" ist die (oft irrationale) Neigung von Menschen zu verstehen, an einer Handlungsalternative (zum Beispiel einem Investitionsprojekt) um so eher festzuhalten, je mehr Geld, Zeit oder Arbeit in der Vergangenheit dafür bereits eingesetzt wurden. Der Sunk-Cost-Effekt ist gemäß experimentellen Untersuchungen um so größer,

Eine weitergehende Erklärung für den Sunk-Cost-Effekt – und verschiedene weitere "Verhaltensanomalien" – liefert die sogenannte "Prospect-Theorie", eine deskriptive Präferenztheorie von Tversky und Kahneman für Entscheidungen unter Unsicherheit. Diese – 2002 mit dem Nobelpreis gewürdigte – Theorie geht davon aus, dass eine "s-förmige" Wertfunktion zur individuellen, subjektiven Bewertung des (psychologischen) Nutzens eines bestimmten Ereignisses existiert. Diese Wertfunktion bewirkt, dass ein Mensch relativ risikofreudig ist, wenn er seine momentane Situation (wie beim "Sunk-Cost-Effekt") als "Verlustsituation" auffasst. Umgekehrt ist er relativ risikoscheu, wenn er sich bereits in einer "Gewinnsituation" wähnt, die er sichern möchte.

Erfahrung im Umgang mit komplexen Situationen

Warum lassen sich die genannten häufig auftretenden Entscheidungsfehler – wenn sie als solche erkannt worden sind – nun nicht relativ leicht vermeiden oder zumindest begrenzen? Das Problem ist, dass jede der genannten Handlungsweisen nur unter bestimmten Bedingungen einen Fehler darstellt. Außerdem neigen unterschiedliche "Typen" von Entscheidern – wenn man eine derartige Vereinfachung akzeptiert – zu unterschiedlichen Fehlern. So lassen sich – stark vereinfacht – eher risikoscheue, lernbereite "rationale Entscheider" von selbstbewussten, risikofreudigen "Machern", die auf bewährte Heuristiken vertrauen, unterscheiden.

Deutlich andere Entscheidungsfehler findet man bei harmoniebetonten, meist auch risikoscheuen Unternehmern, die primär negative Gefühle vermeiden wollen und deshalb Fehlentscheidungen nicht eingestehen. Dabei geht auch Dörner davon aus, dass bestimmte Personengruppen besser mit komplexen Problemen umgehen können als andere. Die Ursache dafür ist nach seiner Einschätzung nicht so sehr Intelligenz oder Motivation, sondern die Erfahrung im Umgang mit komplexen Situationen.

Derart erfahrene Personen – Dörner nennt sie "Entscheidungspraktiker" – sind eher als andere in der Lage zu erkennen, welche der oben aufgezählten Handlungsweisen (Fehler) in bestimmten Situationen unbedingt vermieden werden müssen und welche akzeptabel sind. Sie vermeiden Handlungsweisen, die besonders häufig Handlungsfehler sind, wie zum Beispiel unzureichende Zielanalyse, fehlende Modellbildung und "unreflektierter Methodismus".

Der Erfolg von Unternehmen hängt also auch wesentlich von den individuellen Charakteristika der die Strategie beeinflussenden Führungspersonen ab, speziell deren Fähigkeiten, typische "Denkfallen" zu erkennen und die eigenen Verhaltensweisen kritisch zu hinterfragen. Wer typische Fehler kennt, hat eine bessere Chance, sie bei sich selbst zu vermeiden.

Managementfehler bei komplexen Entscheidungen – Beispiele

Fünf – sicher vereinfachende – Beispiele zeigen, wie maßgeblich psychologisch bedingte Entscheidungen sehr schwerwiegende betriebswirtschaftliche Folgen haben können. Hier werden typische, im wesentlichen psychologisch bedingte Verhaltensweisen beschrieben, die durchaus keine seltenen Einzelfälle sind, aber aus Sicht einer rationalen Betriebsführung Managementfehler darstellen.

Beispiel 1: Hofer Kunststoffteile GmbH

Die Hofer Kunststoffteile GmbH wächst seit mehr als zehn Jahren stetig und erwirtschaftet regelmäßig Umsatzrenditen zwischen vier und fünf Prozent. Durch den Verlust von zwei Großkunden kommt es 1998 erstmals zu einem deutlichen Umsatzrückgang und Verlusten von 900.000 Euro. Die Geschäftsführung erarbeitete daraufhin zusammen mit Unternehmensberatern das Effizienzsteigerungsprogramm "Phoenix", das unter anderem eine Lagerbestandsoptimierung, die Reorganisation des Vertriebs, das Outsourcing des unrentablen eigenen Fuhrparks sowie Verbesserungen der Finanzierungskonditionen umfasste. Durch die damit erzielten Kostenreduzierungen konnte der Ertragsrückgang fast vollständig ausgeglichen werden.

Warum, so ließe sich fragen, wurden die offensichtlich schon seit Jahren vorhandenen Kosteneinsparungspotenziale nicht viel früher genutzt? Weil die Geschäftsführung offenbar ein typisches "Satisfying Behavior" zeigt. Solange die Ertragskraft als befriedigend angesehen wird, werden bestehende Optimierungspotenziale nicht ausgeschöpft. Erst wenn die momentane Situation "schmerzt", also die individuellen Toleranzgrenzen der Geschäftsführung überschritten sind, wird über mögliche neue Handlungsweisen zur Verbesserung der Ertragssituation nachgedacht.

Beispiel 2: Rüsselsheimer Elektronik AG

Aufgrund der prognostizierten hohen Marktwachstumsraten für "Sub-Transit-Konverter" beschloss die Rüsselsheimer Elektronik AG 1998 den Ausbau ihrer diesbezüglichen Fertigungskapazität. Die neue Fabrik – Bauzeit zwei Jahre – soll zwölf Millionen Euro kosten. Schon Anfang 1999 – über drei Millionen Euro sind inzwischen investiert – ändert sich die Lage: Durch eine technische Innovation gibt es nun ein wesentlich günstigeres Substitutionsprodukt zu den Sub-Transit-Konvertern, was deren Marktchancen natürlich stark beeinträchtigt. Der Vorstand beschließt dennoch, den Bau der Fabrik wie geplant fortzusetzen.

Warum wird das inzwischen kaum mehr aussichtsreiche Investitionsprojekt nicht abgebrochen oder zumindest stark modifiziert? Die unveränderte Fortsetzung des Baus der neuen Fabrik trotz deutlich verschlechterter Umfeldbedingungen lässt sich durch den "Sunk-Cost-Effekt" begründen. Um vor sich selbst und anderen keine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen, wird – in der zweifelhaften Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation – konsequent an der einmal eingeschlagenen Handlungsweise festgehalten.

Beispiel 3: Junk & Crisis GmbH

Die Junk & Crisis GmbH, ein Anlagenbau-Unternehmen, hat schon seit Jahren eine unbefriedigende Rentabilität, aber erwirtschaftet noch geringe Gewinne. Kundenbefragungen zeigen zunehmende Kritik an der Qualität der Leistungen. Einzige Maßnahme der Geschäftsführung war es, die Kundenbefragungen einzustellen, weil die Kunden offenbar die tatsächliche Qualität mangels Kompetenz nicht realistisch einschätzen können, was die Ergebnisse offensichtlich wertlos mache. Sinkende Erfolgsquoten bei Ausschreibungen und eine rückläufige Arbeitsproduktivität wurden als rein konjunkturelles Problem bewertet.

Nach mehreren Jahren geringer Rentabilität traten 1997 erstmals hohe Verluste und Liquiditätsprobleme auf. Die Wünsche der Hausbank nach einem Konsolidierungskonzept konterte der Geschäftsführer mit der Feststellung: "Wir haben keine Zeit für Papierkram, wir müssen jetzt handeln!". Darauf folgten zwei Dutzend Ad-hoc-Maßnahmen, von denen nahezu die Hälfte binnen drei Monaten wieder rückgängig gemacht wurde.

Beispielsweise wurde die Kalkulationsabteilung angewiesen, an 50 Prozent mehr Ausschreibungen teilzunehmen, um endlich mehr Umsatz zu akquirieren. Dafür sollte auf eine detaillierte Kalkulation jedes einzelnen Postens der Leistungsverzeichnisse verzichtet werden. Man habe ja schließlich ausreichend Kalkulationserfahrungen, um auch so die richtige Preislage einschätzen zu können. Die Folge war der Submissionserfolg bei zwei Projekten, deren Erlöse kaum mehr als die Hälfte der Kosten deckten. Doch die Geschäftsführung sieht dies als durchaus akzeptabel an, weil auf diese Weise ja ihr wichtigstes Ziel – das Verhindern des Markteintritts neuer Wettbewerber in der Region – erreicht wurde.

Doch warum wurden jahrelang alle Krisensymptome missachtet? Warum versinkt die Geschäftsführung gerade in der Krise, wenn gezieltes Handeln dringend erforderlich wäre, in chaotischer Hektik und nimmt immer höhere Risiken in Kauf? Offensichtlich summiert sich hier eine Vielzahl von Fehlentscheidungen. Das Ignorieren negativer Kundenbefragungsergebnisse ist ein Beispiel für ein "ballistisches Entscheidungsverhalten" mit der Intention, ein möglichst positives Selbstbild zu erhalten. Negative Informationen werden so lange wie möglich ignoriert.

Erst ein offensichtliches Scheitern der bisherigen Unternehmenspolitik – ein "strategischer Misserfolg" – führt zu einer (planlosen) Neuentwicklung von unternehmerischen Handlungsweisen. Der Verzicht auf eine detaillierte Angebotskalkulation ist ein Indiz für die in der bestehenden "Verlustsituation" erhöhte Risikobereitschaft ("Prospect-Theorie"). Vermutlich besteht zudem weiterhin ein (zu)hohes Selbstbewusstsein, das zu riskanten, intuitiven Entscheidungen bei den Angeboten führt. Schließlich wurden in Anbetracht der hohen Verluste durch die akquirierten Aufträge zur nachträglichen Rechtfertigung des eigenen Handelns die ursprünglichen Zielsetzungen umdefiniert. Statt Ertragssteigerung wird plötzlich das Verhindern des Markteintritts neuer Wettbewerber in der Region als wichtigstes Ziel angesehen.

Beispiel 4: Stetten & Halden Bank eG

Herr Droger, Vorstand der Stetten & Halden Bank eG und erfahrener Kenner der Natursteinindustrie, muss wieder einmal – wie schon oft – über ein Darlehen für einen Steinbruchbetreiber entscheiden. Die Steinmeier GmbH hat wegen einiger Investitionen einen vorübergehenden Liquiditätsengpass. Eine Routine-Entscheidung: Herr Droger weiß, dass Steinbrüche sehr profitabel sind, weil die Transportkosten von Steinen so hoch sind, dass zwangsläufig weitgehend wettbewerbsfreie Räume entstehen.

Er prüft natürlich die Eigenkapitalquote, die mit 34 Prozent sehr ordentlich ist. Als Sicherheit stehen der Bank schon seit Jahren die Grundstücke der Steinbrüche zur Verfügung. Eine – scheinbar – sichere Angelegenheit, die schnell befürwortet werden kann. Leider stellte sich zwei Jahre später heraus, dass wegen immer größerer Abraummengen pro Tonne Gesteins die Förderkosten massiv angestiegen sind, und eine vorgesehene Erweiterung des Steinbruchs von den zuständigen Behörden nicht mehr genehmigt wird. Die Rückzahlung der Darlehen ist inzwischen stark gefährdet.

Warum bloß haben Herr Droger und seine Mitarbeiter vergessen, die langfristigen Fördermöglichkeiten des Steinbruchs bei der Darlehensvergabe zu prüfen? Weil Herr Droger von der Stetten & Halden Bank ein erfahrener Entscheidungspraktiker mit hohem Selbstbewusstsein ist, der die anstehende Darlehensentscheidung für die Steinmeier GmbH als Routinefall betrachtet und sie entsprechend "Standardheuristik" bearbeitet.

Gerade seine umfangreichen Erfahrungen sowie seine Selbstsicherheit aufgrund seiner erfolgreichen früheren Kreditentscheidungen führen zu einem stark vereinfachten, teilweise intuitiven Entscheidungsprozeß. Wichtige Einflussfaktoren auf die Entscheidung – hier Erweiterungsgenehmigungen des Steinbruchs – werden vernachlässigt. Einen solchen Fehler würde vermutlich ein weniger erfahrener Firmenkundenbetreuer, der aufgrund seiner noch höheren Unsicherheit systematischer vorgehen und mehr Informationen prüfen würde, nicht machen. Wie man sieht, ist Erfahrung und Selbstsicherheit von Entscheidern durchaus nicht immer günstig.

Beispiel 5: McCash GmbH

Die McCash GmbH ist ein mittelständisches Hochbau-Unternehmen aus Kassel, das 1993 durch den Bau-Boom bei einem Umsatz von 15 Millionen Euro immerhin knappe zwei Millionen Euro Vor-Steuer-Gewinn erwirtschaftete. Da in der Vergangenheit meist nur geringe Gewinne erwirtschaftet wurden, will Geschäftsführer Müller die Substanz des Unternehmens nun stärken und Steuerzahlungen unbedingt vermeiden. Deshalb investiert er – auf Anraten des Steuerberaters – vier Millionen Euro in den Ausbau des Bauhofes, die Anschaffung neuer Maschinen sowie die Renovierung des Verwaltungsgebäudes. Durch Sonderabschreibungen kann er tatsächlich die Steuern fast vollständig umgehen.

Vier Jahre später erlebt Herr Müller – inzwischen im Tief der Bau-Krise angekommen – eine dramatische Liquiditätskrise. Das Unternehmen ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, weil sich natürlich in dieser Situation auch für die gekauften Maschinen keine Käufer finden. Da fragt man sich doch, warum die langfristigen Konsequenzen der Investition – insbesondere die Liquiditätswirkung – bei der Entscheidung kaum beachtet wurden?

Die Probleme der McCash GmbH gehören zu den Situationen, die man als Unternehmensberater bei Konsolidierungs- und Sanierungsfällen leider sehr oft sieht. Um das Ziel "Steuern sparen" zu erreichen, werden betriebswirtschaftlich wenig sinnvolle Investitionen getätigt. Offensichtlich wurden die neben- und langfristigen Folgewirkungen der Investitionsentscheidung ebenso wie die Risiken (weitgehend) ignoriert. Das Entscheidungsproblem wurde unangemessen vereinfacht. Insbesondere wurde nicht beachtet, dass "Steuern sparen" niemals letztendliches Ziel sein kann, sondern immer einem Ziel wie "Steigerung des Unternehmenswertes" untergeordnet sein muss.

Ansatzpunkte für die Verbesserung der Entscheidungsqualität

Wie kann man darüber hinaus erreichen, dass bei begrenzter Entscheidungszeit alle relevanten Aspekte bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen betrachtet werden? Ein absolut sicheres Verfahren für die Optimierung unternehmerischer Entscheidungen gibt es dafür natürlich nicht – sonst wäre Unternehmertum auch zu einfach. Aber durch die richtigen Anregungen – und kritischen Fragen – lässt sich offensichtlich die Entscheidungsqualität verbessern. Insbesondere wenn es gelingt, auf möglichst viele, typischerweise wesentliche Ursachen für Fehlentscheidungen hinzuweisen.

Grundsätzlich sinnvoll ist eine Systematisierung der Prozesse bei wichtigen Entscheidungen und die konsequente Beachtung von – oft eigentlich selbstverständlichen – "Praxisregeln der Entscheidungsfindung":

Zudem kann mit checklistenartigen Systemen wichtiger "Faustregeln für Unternehmer" sichergestellt werden, dass zentrale betriebswirtschaftliche Grundprinzipien in der unternehmerischen Praxis – trotz Zeitmangels und hoher Belastung der Unternehmensführung mit operativen Aufgaben – eine angemessene Beachtung finden können. Insbesondere können mit diesem Hilfsmittel Vorstände und Geschäftsführer unterstützt werden, auf einfache und effiziente Weise umfangreiches betriebswirtschaftliches Know-how nutzen zu können, ohne sich vorher zu intensiv mit aufwändigen betriebswirtschaftlichen Modellen und Theorien befassen zu müssen. So werden zumindest die relevanten Denkanstöße für eine kritische Betrachtung eigener Entscheidungen – auch unter bisher vernachlässigten Gesichtspunkten – geliefert.

Ein gezieltes Entscheidungstraining ist zudem ein Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Qualität unternehmerischer Entscheidungen, das die übliche betriebswirtschaftlich-fachliche Weiterbildung abrunden sollte. Bei wichtigen Entscheidungen lassen sich dann viele potenzielle Fehler durch eine Systematisierung und methodische Untermauerung von Entscheidungsabläufen vermeiden.

Eine Verbesserung der Voraussetzungen für unternehmerische Entscheidungen auf Basis der psychologischen Erkenntnisse ist eine wichtige, bisher wenig beachtete Investition in den unternehmerischen Erfolgsfaktor "Human Capital". Neben der Ressourcenausstattung des Unternehmens und den weitgehend exogenen Marktstrukturen ist nämlich diese "Entscheidungskompetenz des Unternehmers" als weiterer zentraler Erfolgsfaktor anzusehen.

Quelle

Dieser Fachbeitrag wurde - mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH - der folgenden Publikation entnommen:

 

Vorstand der Sektion Arbeits-‚ Betriebs-
und Organisationspsychologie im
Berufsverband Deutscher Psychologen
und Psychologinnen e.V. (Hrsg.),
Wirtschaftspsychologie aktuell,
Heft 2, Jahrgang 2003, Seite 69 bis 74

Autor

Dr. Werner Gleißner
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Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
7. Jahrgang (2004), Ausgabe 5 (Mai)

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Letzte Aktualisierung: Donnerstag, 28. März 2024

       

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